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Der-tut-nix-Hund im Training

Jetzt habe ich einen Der-tut-nix-Hund (es gibt auch noch die Variante Der-will-nur-spielen-Hund oder die Kombination aus beidem) und war am Anfang an manchen Tagen der Verzweiflung näher als mit Hunden, die gerne Abstand möchten oder gelernt haben, dass Artgenossen an der Leine ‚böse‘ und/oder ‚gefährlich‘ sind und dringend Abstand benötigen. Mit diesen Hunden zu arbeiten, bzw. ihnen und uns das Leben angenehmer zu machen ist relativ einfach, auch wenn es häufig eine Weile dauern mag. Sobald man weiß, was dahintersteckt und was die Bedürfnisse des Hundes sind, kann man recht einfach, sehr gut und erfolgsversprechend mit diesen Hunden arbeiten.

 

Bei einem Der-tut-nix-Hund schaut das Ganze anders aus, denn das Bedürfnis, das dieser Hund hat, ist ja, jedem anderen Hund und manchmal auch Menschen und, wenn es ganz extrem kommt, jedem Lebewesen um den Hals zu fallen, bzw. an die Wäsche zu gehen. Der-tut-nix-Hunde kennen und respektieren kaum eine oder keine Individualdistanz und bringen sich und andere damit häufig mindestens in die Bredouille manchmal aber auch in Gefahr. Am häufigsten passiert dies:

 

  • Menschen erschrecken
  • Andere Hunde erschrecken
  • Sie springen an Kinderwagen oder Rollatoren hoch
  • Sie springen Menschen an, die dann vielleicht sogar stürzen
  • Sie laufen vor ein Fahrrad, vor ein Auto, …
  • Sie verfolgen andere Tiere
  • Sie holen einen Radfahrer von seinem Rad

 

Naja, und wenn sie an der Leine sind und sie keine Chance haben, zum Gegenüber hinzukommen, dann machen sie auch gerne mal den Hubschrauber, drehen Pirouetten oder schlagen Purzelbäume. Besonders häufig anzutreffen, ist diese Distanzlosigkeit unter den Retrieverrassen, also genau den Hunden, die gerne als freundliche und fröhliche Hunde beschrieben werden, oft hat aber leider nur einer Spaß. Gut, manchmal ihre Halter auch, denn scheinbar sind sie oftmals entweder aus dem selben Holz geschnitzt oder haben von hündischer Kommunikation und höflichem Verhalten bislang nicht viel gehört.

 

Wenn dann ein distanzloser Zeitgenosse auf einen, der eine recht hohe Individualdistanz benötigt - wie es z. B häufig bei Terrierrassen anzutreffen ist - trifft, dann kann man schnell in eine schwierige Situation geraten. Letztilch wird dann leider oft der Hund, der die größere Individualdistanz benötigt, die vom Der-tut-nix nicht spektiert wird, aus Sicht der beteiligten Menschen fälschlicherweise als der 'Böse' oder gar als aggressiver Hund gesehen.

 

Besonders kleine Hunde, aber auch schreckhafte, ängstliche oder all diejenigen, die charakter- oder rassebedingt eine gewisse Individualdistanz benötigen, werden, gerade bei derartigen Begegnungen an der Leine häufig massiv erschreckt oder bedroht. Zur Erklärung: ein frontales Zugehen oder sogar Zupreschen auf einen Artgenossen gilt in der Hundewelt mindestens als unhöflich bis hin zu einer Bedrohung, die aus Hundesicht auch ein Abwehrverhalten rechtfertigt. Bei nicht wenigen Hunden reicht ein einmaliges Erlebnis dieser Art, um Angst oder Wut und häufig dann in Folge eine sogenannte Leinenaggression zu entwickeln, denn an der Leine kommt noch erschwerend hinzu, dass die Bewegungs- und Kommunikationsfähigkeit des Hundes stark eingeschränkt ist.

 

Einige Hundehalter reagieren mit Unverständnis darauf, dass ich meinen Der-tut-nix-Hund zur Seite nehme, sie absitzen und warten lasse, häufig sogar angedockt an die Leberwursttube. Sie schütteln nur den Kopf oder lächeln, sagen zu ihrem Hund ‚Siehst Du den Hund da? Der ist böööse.' Manche bleiben stehen und gucken uns an, andere kommen sogar weiter auf uns zu, zumindest solange bis ich sie bitte weiterzugehen, da wir gerade trainieren würden. Manche wollen dann anfangen zu diskutieren, andere sind aber auch verständnisvoll und gehen weiter. Einige wenige Hundehalter bedanken sich, da ich ihnen und ihrem Hund damit gerade sehr helfen würde und andere gehen erst ein Stück auf Abstand und / oder fragen mich dann, warum ich das tue. Mit den beiden letztgenannten Haltern komme ich dann häufig in ein Gespräch, aber fast alle sind erstaunt, dass ich mit einem freundlichen Hund auf Abstand trainiere. Wenn ich Ihnen dann erkläre, warum ich das tue, sehe ich förmlich wie es bei ihnen rattert. Wenige sagen dann: So habe ich das noch nie gesehen, aber es macht Sinn. Andere zweifeln und ziehen dann relativ schnell weiter. In mir lebt aber die Hoffnung, dass es ihnen auf Dauer doch plausibel erscheint.

 

Sie möchten wissen, warum ich mit einem Der-tut-nix-Hund auf Abstand trainiere?

 

  • Weil, es unter Hunden zumindest unhöflich, zumeist aber bedrohlich bis provozierend ist, sich anderen Hunden frontal sowieso und dann auch noch wie ein Eichhörnchen auf Speed anzunähern, und sei es noch in solch freundlicher Absicht.
  • Weil ein Anstarren des Gegenübers (dies passiert meist, bevor der Hund ungestüm nach vorne prescht) von diesem als Provokation oder Drohgeste verstanden werden kann
  • Weil sein Verhalten Menschen, andere Tiere und Artgenossen erschrecken kann.
  • Weil aus solchen Situationen leider viel zu häufig Beißvorfälle entstehen, bei denen dann oftmals derjenige, der sich nur verteidigt hat, mit Leinenzwang und/oder Maulkorbpflicht bestraft wird. Und in diesen Fällen reicht es meistens schon aus, wenn der andere Hundehalter sich bedroht gefühlt hat.

 

 Auf Dauer soll Der-tut-nix-Hund:

 

  • Problemlos auf Abstand und im Bogen – wie es die Höflichkeit unter Hunden gebietet - an anderen Hunden vorbeigehen können
  • Sich bei denen, die Abstand brauchen, auf Abstand absetzen oder stehen und warten können und den anderen dabei nicht fixieren
  • Sich anderen Hunden, wo Kontakt von allen Seiten (Hunde wie Halter) erwünscht ist, langsam und auf die freundlich hündische Art annähern können

 

Damit aber mein eigentlich freundlicher Hund keinen Frust, woraus sich ebenfalls später eine (Leinen-)Aggression entwickeln kann, bei Begegnungen mit Mensch und Tier erlebt, übe ich mit ihm in Situationen, die positiv belegt sind. Mein Hund muss da nicht durch oder sogar Begegnungen eng bei Fuß ertragen, sondern ich versuche ihm jederzeit den Abstand zu ermöglichen, den er benötigt, andere Lebewesen ruhig passieren zu lassen während für ihn etwas Schönes passiert. Das kann bei einigen, wie bei meiner Dame, eine ganze Weile dauern, aber es ist jede Mühe wert.

  

Wenn Ihnen also demnächst ein Mensch-Hund-Team ausweicht, umdreht, Abstand sucht, dann könnte es sich auch um einen Der-tut-nix- oder Junghund im Training handeln.

 

 Ach ja, und wenn Ihnen zukünftig jemand entgegen ruft, 'Meiner tut nix' und/oder 'der will nur spielen', seien sie ein wenig auf der Hut und stehen Sie bitte für Ihren Hund ein, wenn er Abstand braucht, er hat ein Recht darauf.

 

Nachtrag Oktober 2019: Bei der Mehrzahl der Hunde klappt das Vorbeigehen inzwischen top. Und ab und an, scheint Madame, gerade bei kleineren Hunden sogar zu erkennen, wenn diese keinen Kontakt möchte. Dies sind übrigens die schönsten Momente im Training, denn es zeigt, das auch Hunde, die in ihrem Leben vieles verpaßt haben, vielen davon noch lernen können. Bei Hunden, die sie kennt oder labradorähnlichem Getier würde sie, wenn wir den Abstand nicht rechtzeitig deutlich vergrößern oder ich ein (inzwischen recht zuverlässig ausgeführtes) Sitz abfrage, doch ab und an noch die Contenance verlieren. Das Sitz haben wir über die letzten Monate in allen Lebenslagen, auf verschiedenen Untergründen, an verschiedensten Orten, zu verschiedensten Zeiten, angeleinnt und unangeleint, und unter langsam steigenden Ablenkungsgraden geübt. Es fällt jetzt im Herbst allerdings auf, das das Training in Dunkelheit und auf nassem Untergrund (besonders höheres Gras) noch deutlich ausbaufähig ist.

 

Nachtrag Mai 2020: Kleine Hunde sind inzwischen recht lange ziemlich uninteressant, es sei denn sie signalisieren eindeutige Kontaktfreudigkeit. Dann muß der Abstand auch nochmal größer sein, oder es wird im Sitz gewartet, was Madame oftmals leichter fällt, als vorbeizugehen (das Mittel der Wahl sollte immer das sein, was dem Hund in der Situation an erwünschtem Verhalten leicht fällt). Auch bei größeren Artgenossen und sogar bei denen, die in ihrer Liga spielen, wird es immer noch besser. Eine Belohnung erfolgt nicht mehr immer, und in den meisten Fällen auch erst, wenn wir bereits am anderen Hund vorbei sind. Die Belohnung variiert inzwischen von mittelmäßig interessanten Leckerchen, hin zum Aufnehmen des Geruchs des anderen und bis zum (erneuten) Ableinen und ab und zu (je nach Artgenosse) auch der Möglichkeit zur Begrüßung und/oder Spiel. Ein Interesse am anderen ist zu dem Zeitpunkt dann häufig schon deutlich geringer. Etwas schwieriger ist es immer noch auf den Runden, wo wir auf engeren Wegen auf mehrere Hunde recht kurz hintereinander treffen oder wenn sie auf Hunde trifft, die sie gut kennt, sehr mag (Labbies und Goldies und besonders große Hunde stehen bei ihr ganz oben auf der Yippie-Liste), die, wo auch ich nicht immer an den Haltern vorbeigehen möchte, oder bei Gassirunden hier vor Ort. Da kommen dann durchaus nochmal einige Leckerchen, bis wir am anderen Hund angekommen oder vorbei sind, zum Einsatz.

 

Das Ganze ist übrigens von Beginn an mein Fehler gewesen, denn ich war zu Beginn so froh, das sie endlich raus in die Welt wollte und bei Begegnungen mit Mensch und Hund aufblühte. Daran erkennt man, auch als Hundepsychologin tappt man beim eigenen Hund durchaus in die emotionale Falle. Dann man muss man sich letztlich mit den Konsequenzen, nämlich gegebenenfalls viel Zeit und Geduld aufzubringen, arrangieren. Aber das mach ich mit dem Wissen um - früheren oder späteren Erfolg - sehr gerne.